Beschneidung – Oder: Lasst Kindergenitalien doch einfach in Ruhe

Mein Opa hat mal gesagt: »Wer kleinen Kindern an den Genitalien rummacht, ohne dass es medizinisch nötig ist, der ist entweder pervers, ein blödes Schwein oder beides.«

Sehr klare Worte einer älteren Generation, die ich ursprünglich in die Überschrift eingearbeitet hatte. Nicht unbedingt für jeden zu verdauen und sicherlich ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Denn nicht nur perverse oder blöde Schweine schneiden kleinen Kindern unnötigerweise an den Genitalien herum, sondern auch religiöse und im weitesten Sinne gläubige Menschen, die darin einen besonderen Dienst an ihrem jeweiligen Gott , bzw. ihrer Kultur sehen.

Nach dem Aufruhr um ein eventuelles Beschneidungsverbot (wie kann man es sich als säkulare Gesellschaft nur erlauben zu verlangen, dass das zu beschneidende Kind einwilligungsfähig ist? Wie kann man nur? Das geht ja mal gar nicht!) war unsere deutsche Politik schnell mit vorauseilendem, duckmäuserndem Gehorsam vor Religionsvertretern dabei, die Beschneidung von Jungen »rechtssicher« zu machen. In anderen Worten: Unnötige Operationen bleiben zwar weiterhin verboten, aber wenn es in einem über tausend Jahre alten, als heilig erachteten Buch steht, dann sind sie erlaubt. Zumindest dann, wenn das operierte Kind ein Junge ist. Und wenn die Operation darauf abzielt, dem Jungen einen Teil seiner erogenen Zone zu entfernen. Und auch dann, wenn es eigentlich die Grundrechte des Jungen verletzt. Das Wort »Eigentlich« wähle ich deshalb, weil Kinder in Deutschland noch immer keine eigene eigene verfassungsrechtliche Stellung haben, und nur von den Eltern abgeleitete Rechte einklagen können.

Deutschland tut sich mit der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention ein wenig schwer. In Artikel 4 heißt es:

Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen
zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte. Hinsichtlich der wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Rechte treffen die Vertragsstaaten derartige Maßnahmen unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit.

Wenn also irgendjemandes Gott verlangt, dass Jungen gefälligst die Vorhaut abgeschnitten werden soll, dann ist das schon in Ordnung so. Denn seit wann haben Kinder denn ein Recht auf körperliche Unversehrtheit oder Religionsfreiheit?
Unsere Politik schert sich einen ziemlichen Dreck um diese Fragen, wie sie mit dem Erlauben der Jungenbeschneidung eindrucksvoll bewiesen hat. Naja, zumindest soll die Beschneidung nun nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen werden. Welch ein Trost. Ob ich sauer bin? Die Frage ist wohl beantwortet.

Nun hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf beschlossen, der bis zu 15 Jahre Haft für diejenigen vorsieht, die eine Beschneidung an einem Mädchen vornehmen. Die Genitalverstümmelung soll danach als eigener Straftatbestand gelten. Bisher wurde die weibliche Beschneidung als Körperverletzung geahndet und brachte zwischen 6 Monaten und zehn Jahren Gefängnis.

Halt! Stopp! Werden Sie jetzt denken. Der Hellseher hat doch völlig einen an der Klatsche! Wie kann er bloß die weibliche mit der männlichen Beschneidung vergleichen! Das ist doch nun wirklich nicht das Gleiche!
Bitte bleiben Sie noch ein bisschen bei mir. Ich habe nicht vor, das eine gegen das andere auszuspielen oder auf »Männerrechte« zu pochen. Mir geht es nicht um Jungen vs. Mädchen, sondern darum, dass Kinder allgemein ein Recht haben sollten, über ihre Genitalien allein zu bestimmen.
Wenn wir im Westen von weiblicher Beschneidung hören, dann denken wir an die grausame Praxis der Infibulation, also der Entfernung der Klitoris und dem Zunähen der Vulva.

Lassen Sie uns nur mal ganz kurz einen Blick auf die säkulare weibliche Beschneidung im Westen werfen. »Was? Sowas gibt’s doch gar nicht!« Doch, leider schon. Gab es zumindest. Und die war meiner Meinung nach ebenfalls grausam, weil ebenfalls vollkommen unnötig.

Die säkulare (also nicht religiös motivierte) Beschneidung von Jungen und Mädchen begann im Westen so richtig um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber schon vor 1750 wurde das als wissenschaftlich erachtete Werk »Onania, or the Heinous Sin of Self-Pollution, And All Its Frightful Consequences, in Both Sexes, Considered« in insgesamt 19 Editionen herausgegeben und über 38.000 mal verkauft. Und der Titel lässt hier gut auf den Inhalt schließen. Kurz: Masturbation verursacht oder begünstigt körperliche oder geistige Krankheiten und muss nach Möglichkeit verhindert werden.
Es sollte aber noch knapp 50 Jahre dauern, bis die Vorstellung des »Masturbationsinduzierten Wahnsinns« sich in Europa und den USA ausbreitete.

Eltern suchten bei Ärzten nach Lösungen, damit das Kind nicht masturbierte. Und einige in damaliger Zeit erfundene Verfahren waren dergestalt, dass die Beschneidung noch die gnädigere Variante zu sein schien. Empfehlungen gingen von dornenbesetzten Ringen und Keuschheitsgürteln, bis hin zur Kastration bzw. bei Frauen zur Entfernung der Klitoris.

Anti-Masturbationsringe

The Anxiety Makers: Some Curious Preoccupations
of the Medical Profession by Alex Comfort, Thomas Nelson & Sons/London, 1967.

In dieser Zeit fand die Jungenbeschneidung bei Ärzten und Eltern großen Anklang. Aber auch die Mädchenbeschneidung kam häufiger vor, da auch Mädchen der damaligen Vorstellung nach nicht vor Masturbation und den daraus angeblich entstehenden Krankheiten gefeit sind.
Analog zur Penisvorhaut entfernte man bei Mädchen die Klitorisvorhaut, scheute aber auch nicht, wie oben bereits erwähnt, davor zurück, die Klitoris als Ganzes zu entfernen, wenn die Situation es nach Vorstellung der Ärzte erforderte. Auch bei erwachsenen Frauen »kurierte« man Zustände wie »Frigidität« mit der Entfernung der Klitorisvorhaut. Und bei diagnostizierter »Hysterie« mussten dann auch schon mal die Eierstöcke dran glauben.

Diese Praxis hatte bis in die späten 1950er Jahre bestand. Die Mädchenbeschneidung wurde gnädigerweise abgeschafft (in den USA um die 1970er Jahre herum) und in den 90er Jahren dann verboten.
Die Jungenbeschneidung wird in den USA allerdings noch immer vielerorts als Standardverfahren gesehen. Heute allerdings mehr aus kosmetischen Gründen. Es heute für viele Eltern einfach »schöner aus.« Ein selten dämlicher Grund, Kindern an Genitalien herumzuschneiden. In einer Gesellschaft mit Zugriff auf sauberes Wasser und Seife kann man so manchen Beschneidungsgrund im Hinblick auf die Rechte des Kindes nicht mehr aufrechterhalten.

Ich kann den Gedankengang nicht nachvollziehen. Wenn man ein Neugeborenes in den Händen hält, ist einer der ersten Gedanken dann wirklich »Und jetzt lasst uns sein Geschlechtsteil nach unseren Vorstellungen formen«?
Warum sollte man als liebender Elternteil seinem Kind einer Operation unterziehen, die nach geltendem Wissensstand vollkommen unnötig ist?

In Europa und den USA wurde die Beschneidung zuerst zur Verhinderung der Masturbation praktiziert. Angebliche medizinische Vorteile wurden erst nachträglich angeführt und sind, wie gesagt, oft nicht mehr haltbar.
Die WHO suggeriert mit einer Studie, dass die Infektionshäufigkeit von HIV und HPV abnähme, wenn der Mann beschnitten sei. Diese Studie lässt aber Fragen offen.

Was bleibt also unter dem Strich?

Wir haben gesehen, dass es durchaus im Ansatz vergleichbare Beschneidungstechniken für Mädchen und Jungen gibt, auch wenn diese glücklicherweise  bei Mädchen – zumindest in westlichen, säkularen Gesellschaften – nicht mehr praktiziert werden.
Wir haben auch gesehen, dass die Beschneidung im Westen ursprünglich eher indirekt durch Religion, sondern durch Masturbationsangst angetrieben wurde, was sie keinesfalls besser oder schlechter macht.

Was allerdings einen Unterschied macht, ist die mangelnde Rechtfertigungsmöglichkeit der wissenschaftlichen Sichtweise. Man kann beweisen, dass die Entfernung der Klitorisvorhaut (oder der Klitoris als ganzes) eben nicht psychische Krankheiten heilt. Die religiöse Seite allerdings kann sich einfach auf die Position »Deus lo vult« zurückziehen und ihr heiliges Buch vor sich hertragen. Und alle anderen müssen das dann selbstverständlich respektieren.
Also ist die Jungenbeschneidung, weil sie eine religiöse Tradition bestimmter Kulturen ist, per Gesetz erlaubt, die Mädchenbeschneidung aber eine Straftat? Müsste man nicht dann der Logik folgen und sagen, auch andere religiöse Bräuche und Traditionen müssten per Gesetz erlaubt werden? Schließlich sind sie doch einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder einer Kultur heilig.

Oder, und ich frage das Mal ganz ketzerisch: Geht es in dem Falle vielleicht gar nicht um Religion und deren Freiheit, sondern um andere politische Motive? Beispielsweise um das in der damaligen Diskussion gebrachte »Ausgerechnet Deutschland!«

Ich glaube, der Politik ging es in der hektischen Beschneidungslegalisierung einfach nur darum, das Thema möglichst schnell aus den Augen der Öffentlichkeit zu bekommen.
Sonst müsste man ja vielleicht der Fairness halber zugeben, dass man zwar Kinderrechte auf dem Papier ganz toll findet, es in der Umsetzung aber lieber nicht so genau damit nehmen möchte, wenn das bedeutet, religiöse Menschen damit vor den Kopf zu stoßen.

Kurzer Realitycheck:

In Deutschland ist es Frauen erlaubt, unverschleiert herumzulaufen. Sie dürfen mit Männern zusammen schwimmen gehen. In manchen Arealen sogar nackt. Sie dürfen bei Wahlen ihre Stimme abgeben, Auto fahren und jeden Beruf ergreifen. Sie dürfen ihre Religion frei wählen und auch wieder ablegen. Alles Dinge, die mit Sicherheit bestimmten religiösen Menschen, auch in Deutschland, vor den Kopf stoßen. Auch das offene Sprechen über Religionen , inkl. des Kritisierens ihrer Ideen und Lehren, ist in Deutschland im Rahmen der Meinungs- und Pressefreiheit erlaubt. Für so manchen religiösen Menschen ein purer Affront und ein Angriff auf seine religiösen Gefühle.
Aber das sind alles vom Grundgesetz gedeckte Rechte (wie auch die Religionsfreiheit) und dennoch führt die Bundesregierung kein Gesetz ein, dass es verbietet, Religionen zu kritisieren. Da darf es dann auch mal an religiösem Respekt mangeln. Bei der unnötigen Amputation gesunden, mehrere Funktionen erfüllenden Körpergewebes aber, naja…. Das muss man ja nicht so genau nehmen. Wenn deren Gott es doch verlangt…

Die Frage, die unabhängig von medizinischer Indikation stellen möchte, ist: Sollen die Eltern das Recht haben, über die Form oder Beschaffenheit des Geschlechtsteils ihres Kindes bestimmen zu dürfen? Oder sollte allein der Besitzer des Geschlechtsteils bestimmen, was damit geschieht oder eben nicht geschieht? Zumal bei unklarer Lage der medizinischen Vor- und Nachteile?
Haben Kinder das Recht auf körperliche Unversehrtheit (und somit automatisch auch das Recht auf die Genitalien, mit denen sie geboren wurden) oder haben sie es nicht?

Wenn Kinder dieses Recht haben, darf dann die Religionsfreiheit der Eltern als wichtiger gelten, als das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Kinder?

Und wenn die Bundesregierung (völlig zurecht) jegliche Form der weiblichen Beschneidung verbietet, auch die religiös begründeten, warum verbietet sie nicht gleichzeitig auch die Jungenbeschneidung?

Religion und kulturelle Rituale scheinen der Bundesregierung hier glücklicherweise nicht wichtiger zu sein, als die körperliche Unversehrtheit kleiner Mädchen.
Dennoch frage ich mich, warum kleine Jungs weiterhin vom Staat gedeckte Beschneidung aus genau diesen Gründen erdulden müssen.

Sollten wir nicht einfach die Genitalien aller Kinder per Gesetz in Ruhe lassen und ihnen die Entscheidung als Erwachsene überlassen, wie es sich für einen säkularen Staat, der Kinderrechte schützt, meiner Meinung nach gehört?

Quellen:

http://www.noharmm.org/paige.htm
http://www.historyofcircumcision.net/
http://www.psychologytoday.com/blog/moral-landscapes/201109/more-circumcision-myths-you-may-believe-hygiene-and-stds
http://blog.practicalethics.ox.ac.uk/2012/05/when-bad-science-kills-or-how-to-spread-aids/
http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/gesetz-zur-beschneidung-kinderaerzte-kritisieren-beschluss-a-861359.html
http://www.pflegewiki.de/wiki/Zirkumzision#Verluste_durch_die_Zirkumzision
http://de.wikipedia.org/wiki/Zirkumzision

7 Gedanken zu “Beschneidung – Oder: Lasst Kindergenitalien doch einfach in Ruhe

  1. Ich habe vor fast genau zwei Jahren einen (englischsprachigen) Beitrag geschrieben, wo ich einige der Aspekte der Beschneidung diskutiere, insbesondere wer was mit welchem Recht entscheiden darf: http://michaeleriksson.wordpress.com/2011/05/29/children-vs-parents-vs-the-government-circumcision/

    Spezifisch zu religiösen Aspekten, wo ja gerne die Religionsfreiheit als Argument benutzt wird, um z.B. Beschneidungen zu rechtfertigen, würde ich das Grundprinzip anwenden vollen: Das wichtigste an Religionsfreiheit ist das Recht zur Freiheit von Religionen. (Inklusive das Recht nicht als Kind indoktriniert zu werden, sondern selbst seine eigene Ansicht über Jahren zu entwickeln, und das Recht nicht religiösen Handlung ausgesetzt werden zu müssen—z.B. Bescheidungen.)

  2. Überleg bitte mal, ob es außer „pervers“ und „blödes Schwein“ noch andere Motivationen gibt. Denn über die muss man ja reden und mit einer Beschimpfung, wird ein Dialog schwierig.
    Die Überschrift disqualifiziert leider den übrigen Inhalt, der gut ist.

    • Sämtliche Motivationen, kleinen Kindern ohne medizinische Notwendigkeit an den Genitalien herumzuschneiden, sind für mich so bedeutungslos wie sie abstoßend sind.
      Daher habe ich in der Überschrift auch die Hyperbel meines Opas verwendet.

      Mir geht es um das allgemeine Recht von Kindern, über ihre Genitalien selbst bestimmen zu können. Unabhängig vom kulturellen Hintergrund bzw. der Religion ihrer Eltern. Zumindest schon mal dann, wenn sie in säkularen Staaten leben.

      Ich glaube, so etwas kann nicht allein über einen Dialog gelöst werden, so sehr ich Dialog an sich aber begrüße. Der Gesetzgeber müsste hier ein klares Signal für Kinderrechte setzen.

      Deine Kritik nehme ich aber gerne an und werde mir in Zukunft zusätzlich Gedanken über meine Überschriften machen. 🙂

  3. „…auch wenn diese glücklicherweise bei Mädchen nicht mehr praktiziert werden.“
    Das solltest Du unbedingt korrigieren.
    Leider werden auch Mädchen weiterhin verstümmelt, auch in den mit MGM vergleichbaren Formen.
    In z.B. Ägypten ist das sehr weit verbreitet.
    Ansonsten stellst Du sehr überzeugend dar, welche völlig desaströse und heuchlerische Rolle die 1631d – BefürworterInnen spielen.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.